Perverse tantrische Praktiken oder Kama Sutra?
Als im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert die europäische Gelehrtengemeinschaft die indische Kultur mehr und mehr kennen lernte, wurden durch christliche Missionare auch tantrische Praktiken bekannt. In reißerischen Berichten wurde dem erschütterten westlichen Publikum von sexuellen tantrischen Übungen berichtet, die als düstere okkulte Perversionen einer primitiven, rückständigen Bevölkerungsgruppe dargestellt wurden. Akademische Forscher im Westen griffen diese Charakterisierungen „schwarzmagischer“ Gebräuche auf. Die Wahrnehmung tantrischer Praktiken wurde weiter verzerrt, als Sir Richard Francis Burton das „Kama Sutra“ ins Englische übersetzte, ein antikes höfisches Lehrbuch, das als Ratgeber in allen Dingen rund um sexuelle und eheliche Angelegenheiten fungierte.
Die Unterweisungen des Kama Sutra, vor allem die detaillierten Beschreibungen von unterschiedlichen Stellungen des Geschlechtsverkehrs, wurden in der Folge im Westen mit Tantra verwechselt.
Der schlechte Ruf änderte sich Anfang des 20. Jahrhunderts durch das Engagement des britischen Orientalisten Sir John Woodroffe („Arthur Avalon“). Woodroffe praktizierte selbst tantrische Übungen und stellte in seinen Schriften ein gereinigtes, ehrwürdiges Tantra vor, das der gelehrten, symbolisierten Interpretation entsprach. Tantra wurde so zu einer rationalen ethischen Schule, die in Verbindung und Auseinandersetzung mit den vedischen Schriften entstanden sei, welche auch im Westen als Werke der Hochkultur geschätzt wurden. Woodroffes Stilisierung des Tantra geht seinerseits auf eine reformierte Interpretation des Tantra durch indische Gelehrte zurück, die es sowohl gegen die Vorwürfe aus dem christlichen Westen wie gegen die Vorwürfe im eigenen Land verteidigten, welche Tantra als eine dekadente, korrumpierte Version der vedischen Lehren sahen.