Tantra in Indien – Ursprung und Entwicklung
Das Wort „Tantra“ hat in unserer westlichen Kultur im Laufe der letzten Jahre eine verwirrende Vielfalt von Bedeutungen bekommen. Abhängig davon, wer den Ausdruck gebraucht und wer zuhört, sind die unterschiedlichsten Assoziationen im Spiel. Dies liegt zum einen daran, dass der Begriff im letzten Jahrhundert eine deutliche Bedeutungsveränderung erfahren hat. Was sich in den letzten Jahrzehnten in Europa und den USA unter dem Begriff „Tantra“ entwickelt hat, hat nur noch wenig mit dem zu tun, was in seinem Herkunftsland Indien damit bezeichnet wurde und wird. Zum anderen umfasst der Begriff aber schon in Südasien und Südostasien selbst eine Vielzahl heterogener Phänomene.
Viele Gelehrte haben versucht, Tantra zu definieren; aber jede ihrer Beschreibungen ist ungenügend. (...) Die Definitionen von Tantra durch Sanskrit-Forscher ähneln den Beschreibungen, die blinde Männer von einem Elefanten geben.
Benyotosh Bhattacharyya
Tantra und Kama Sutra
Im Hinblick auf Indien bezeichnet „Tantra“ eine große Familie unterschiedlichster Praktiken, Texte, Erkenntnislehren und Kulte, deren früheste Spuren sich bis in das siebte Jahrhundert n. Chr. zurückverfolgen lassen, wenn nicht noch weiter. Diese „Kult-Familie“ ist für die Herausbildung der religiösen Kultur Südostasiens wesentlich einflussreicher und verbreiteter gewesen, als westliche Gelehrte wie auch der reformierte Hinduismus des 19. und 20. Jahrhunderts es lange Zeit wahrhaben wollten: Noch um 1800 rechneten sich große Teile der indischen Bevölkerung tantrischen Kulten zu – selbst solche aus dem Umfeld des reformierten Hinduismus der gebildeten Schichten.
Tantra in diesem Sinne ist etwas ganz anderes als die indische Liebeslehre Kama Sutra, etwas anderes als Yoga oder Ayurveda oder Massage. Dennoch ist es nicht möglich, dieses indische Tantra auf einen Nenner zu bringen: Einerseits steht es in engem Zusammenhang mit einer unüberschaubaren Fülle an lokalen und regionalen Göttern, die mit Wäldern, Flüssen, Bergen, Bäumen und verstorbenen Ahnen assoziiert werden. In der Begegnung der Menschen mit diesen (oftmals weiblichen) Göttern war das Stillen deren Hungers durch geeignete Opfergaben ein wesentliches Element. Andererseits bildete sich eine Vielzahl an Schulen und Richtungen in Indien, Nepal, Tibet und China heraus. Sie konnten kultisch-praktisch orientiert sein, eine ethische Lebensführung im Blick haben, theoretisch-spekulative Lebensdeutungen ausformulieren oder magisch-okkulte Effekte hervorrufen wollen. Die Ziele, die sie verfolgten, waren ebenso unterschiedlich: das Erlangen von Flugkünsten, die Instrumentalisierung von Dämonen für eigene Zwecke, Selbstvervollkommnung, Erkenntnis kosmischer Zusammenhänge, das Erreichen göttlicher Bewusstseinszustände oder mystischer Erfahrungen. Zu diesem Zweck kamen diverse Praktiken zum Einsatz: meditative Wortklänge, Körperstellungen, Handgesten, Bilder, Atemübungen, Visualisierungen, Reinigungspraktiken, Speise- und Trinkanweisungen sowie religiöse und soziale Vorschriften.
Tantra und Sex
Bereits seit frühester Zeit wurden in einigen Tantra-Richtungen auch sexuelle Handlungen vollzogen. Dabei kam der Hervorbringung und dem Austausch von Körperflüssigkeiten (Menstruationsblut, Scheidenflüssigkeit, Sperma) eine zentrale Rolle zu, etwa in den Ritualen der Kaula-Tradition. In diskreten Zeremonien, die in der Regel den Blicken der Öffentlichkeit entzogen waren, verbanden sich die männlichen Kaula-Praktiker mit speziellen, an die Familie gebundenen Göttinnen/Dämoninnen, verkörpert durch eine besondere Sorte von Zauberinnen und Hexen (Yoginī). Im Gegensatz zu anderen religiösen Traditionen Indiens wurde bei diesen Kult-Varianten zur Stillung des göttlichen Hungers nicht Blut, Menschen- oder Tierfleisch als Opfer offeriert, sondern die Samenflüssigkeit des Mannes. Im Gegenzug erhielt der männliche Praktiker von der Yoginī recht weltlich orientierte Belohnungen wie die Befähigung zum Fliegen oder körperliche Unsterblichkeit - übermittelt durch das Aufnehmen der weiblichen Körperflüssigkeiten der Frauen. In dem Maße, in dem auch der Hochadel an solchen Riten teilnahm, wurden im frühen Mittelalter Indiens spezielle Tempel für den Vollzug dieser Riten errichtet. Einige Forscher halten diese Praktiken für den historischen Kern der tantrischen Kultfamilie.
Bereits im Mittelalter wurde diese Riten, die für manche Bevölkerungsgruppen und religiösen Milieus durchaus anstößig waren, sowie ihre magische Zielsetzung einer Reform unterzogen: Sie wurden ästhetisiert, erweitert und umgestaltet. Das Ziel tantrischer Übungen sollte nun sein, durch den Orgasmus das zusammengezogene Selbstbewusstsein in ein Gottesbewusstsein auszuweiten, so dass das gesamte Universum als Selbst erfahren werden konnte. Dabei wurden die sexuellen Praktiken ganz oder teilweise symbolisiert und in Formen asketischer Meditation sublimiert. Auf dieser Reform basieren noch heute eine Vielzahl tantrischer Schulen.
Sexuelle Varianten des Tantra können in ein bewusstes Verletzen vedischer Reinhaltungsgebote eingebettet sein - den pañca-makāra: Konsum von Matsya [oder Mīna] (Fisch), Māmsa (Fleisch), Madya (Wein), Mudrā (getrocknete Körner) und eben der Vollzug von Maithuna (Geschlechtsakt); alle „5 M“ können symbolisch oder auch buchstäblich vollzogen werden. Dennoch sollten solche Praktiken keinesfalls als revolutionäre Gegenkultur oder als Aufbegehren gegen die etablierte indische Gesellschaft begriffen werden. Im Gegenteil, sie sind ingesamt gesehen eine konservative Praxis, die die bestehende Ordnung bestätigt und nur temporär und wohldosiert außer Kraft setzt. Das Gleiche gilt auch in anderen Regionen, in denen tantrische Praktiken solche Brüche mit sozialen Geboten einschließen.
Vielfalt und Gemeinsamkeiten im Tantra
Die vielfältigen tantrischen Traditionen standen untereinander sowie mit lokalen Kulturen in anderen Ländern in intensivem Austausch: es gibt hinduistisches und buddhistisches Tantra in diversen Ausprägungen, ebenso Tantra in Tibet, Nepal, Bhutan, Pakistan, Birma, Korea, Kambodscha, Indonesien, China, Japan und in der Mongolei - letztlich ein undurchdringbares Geflecht unterschiedlichster Traditionen.
Aber weder in den magischen noch in den ästhetisierten Formen des sexuellen Tantra - und erst recht nicht in den viel verbreiteteren nicht-sexuellen Schulen - war jenes Ziel zentral, das heute im Westen oft als Ziel von Tantra genannt wird: die Erlangung besonderer Lust, Seligkeit oder Ekstase in einem mehr oder weniger verfeinerten Zustand. Wenn sich überhaupt ein gemeinsames Interesse der tantrischen Schulen ermitteln ließe, so hieße dieses entweder „Macht“ (Kontrolle über Energien, Mächte oder Kräfte, die das Universum, den menschlichen Körper und die soziale Ordnung durchziehen) oder Befreiung. Zur Erlangung dieser Ziele sexualisieren einige tantrische Traditionen Rituale und rituelle Beziehungen.
Darüber hinaus gibt es zwei weitere Überschneidungen: Allen tantrischen Schulen ist erstens gemeinsam, dass sie ihre Praktiken als Teil eines bestimmten, traditionsgebundenen „tantrischen“ Lebensstils verstehen, der zentral ist, wenn die Praktizierenden die oben genannten Ziele der Selbstvervollkommnung, die Erkenntnis kosmischer Zusammenhänge und mystische Erfahrungen erreichen wollen. Bei der Vermittlung der Praktiken und Lehren ist zweitens ein spezielles traditionelles Lehrer-Schüler-Verhältnis markant – was sich durch eine langjährige Führung durch einen Guru äußert, welcher durch eine ungebrochene Tradierungs- und Ausbildungslinie legitimiert sein muss.
Autoren und Copyright:
Stefanie Imann und Julio Lambing für ANANDA – Kunst der Berührung im Juli 2009. Alle Rechte bei den Autoren. Eine Vervielfältigung oder Nutzung durch kommerzielle Anbieter ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis der Autoren möglich.
Literatur:
- David Gordon White: "Kiss of the Yogini: 'Tantric Sex' in its South Asian Contexts", Chicago: University of Chicago Press, 2003.
- David Gordon White (ed): "Tantra in practice", Princeton: Princeton University Press, 2000.
- Hugh B. Urban: "Tantra: Sex, Secrecy, Politics and Power in the Study of Religion", University of California Press, 2003.
- Michel Strickmann: "Mantras et mandarins. Le Bouddhisme tantrique en Chine", Paris: Gallimard, 1996.
- David Gellner: "Monk, Householder, and Tantric Priest. Newar Buddhism and its Hierarchy of Ritual", Cambridge Univ. Press, 1992.